Designsystem

MotivFototechnikÄsthetikAussage

Das vorgestellte System strukturiert den fotografischen Prozess. Man könnte es ein Struktursystem der Fotografie nennen. System klingt ein wenig abstrakt und technisch. Berufsfotografen, die ja nicht unsystematisch einfach drauflos fotografieren, reden daher manchmal von Konzept oder Konzeption. Eine fotografische Konzeption ist letztlich ebenfalls ein System zur Planung aller für ein fotografisches Projekt maßgeblichen Faktoren. Konzeption klingt aber hübscher und künstlerischer.

Ein System erhält man, wenn man alle Faktoren eines Vorganges oder Sachverhaltes zusammenstellt und zueinander in Beziehung setzt. Es handelt sich hier um ein System der Visualisierung.

Für eine gelungene und zweckentsprechende Fotografie habe ich folgende Hauptfaktoren gefunden und in einem einfachen morphologischen Modell verbunden. Die Begriffe sind allgemein bekannt und werden im Sinne eines praxisgerechten Vorgehens genauer definiert.

Statt von Faktoren könnte man auch von den verschiedenen Dimensionen oder Ebenen des Fotografiervorganges reden. Ich habe sehr viele Flickr-Fotos aller Qualitätsstufen und aller Arten von Flickr-Nutzern analysiert. Die meisten Fotos haben Schwächen, weil einer oder sogar zwei der Faktoren nicht berücksichtigt wurden. Langweilige oder stereotype Motive. Falsch eingesetzte Fototechnik. Mangelhafte Ästhetik. Fehlende Aussage. Im schlimmsten Fall alles zusammen. Das ist ebenso schade wie unnötig. Denn die meisten Fotografen verbringen eine Menge Zeit mit Flickr und dem Aufnehmen von Fotos. Das hier nach und nach vorzustellende System ist auf praktische Produktivität ausgelegt.

Die Begriffe Motiv, Fototechnik, Ästhetik und Aussage kennen wir aus zahlreichen Fotobüchern. Allerdings werden sie im allgemeinen Sprachgebrauch mit Stereotypen und wenig nützlichen oder einseitigen Vorstellungen überlagert. Daher folgt hier zunächst einmal eine Klarstellung, wie diese in dem hier vorgestellten Fotografiersystem zu verstehen sind.

Motiv

Motiv ist eine Location mit einem oder mehreren Objekten. Die Objekte können belebt oder unbelebt, statisch oder in Bewegung sein. Ich nenne das Motiv-Szene. Motiv hat etwas mit Motivation zu tun. Es muss einen Grund geben, warum man gerade eine bestimmte Szene fotografiert und an anderen achtlos vorbeigeht. Die Bewertung eines Motivs entspricht dem Weltbild des Fotografen. Manipuliert durch Motivstereotypen ist die Weltsicht oft sehr eingeschränkt. Nicht das gute Auge, sondern die innere Sicht bestimmt, was wir sehen und fotografieren. Und dazu gehört auch das Wissen über unsere Motive. Ein Tierfotograf, der die Lebens- und Verhaltensweise seiner Tiere kennt, kann das Typische, Individuelle und Besondere herausarbeiten. Wer Tiere nur schön, niedlich und interessant findet, kann höchstens zufällig mal ein gutes Tierfoto machen. Und das gilt für alle Bereiche. Wer kein Menschenkenner ist, wird keine guten Fotos von Menschen machen. Wer über die Stadt und ihre Menschen nicht viel weiß, steht als Street-Fotograf auf verlorenem Posten. Das lässt sich beliebig fortsetzen. Es lohnt sich also, sich über Motive und deren Eigenschaften umfangreiche Gedanken zu machen und sich ein passendes Wissen anzueignen.

Wir können Motive aber auch verändern und arrangieren. Bei Studioaufnahmen wird das sowieso gemacht. Ein Werbefotograf hat meistens noch einen Dekorateur zur Hand, der ihm eine passende und hübsche Motivszene zusammenbaut. Aber auch in der Alltagsfotografie können leichte Veränderungen der Motivszene zu wesentlich besseren Fotos führen.

Fototechnik

Fototechnik wird in zahllosen Fotobüchern und Internetpublikationen behandelt. Die Fototechnik ist naturwissenschaftlich und technisch gesichertes Wissen. Sie ist daher am leichtesten zugänglich und nachvollziehbar. Ganz im Gegensatz zu den anderen Faktoren Motiv, Ästhetik und Aussage.  Für die Artikel dieser Webseite wird fototechnisches Grundwissen über Brennweite, Blende, Belichtungszeit, ISO usw. vorausgesetzt. Erwähnung findet die Fototechnik dort, wo es um Beziehungen zu den anderen Faktoren  Motiv, Ästhetik und Aussage geht. Aber selbstverständlich ist es nützlich, wenn man über die Fototechnik  ein fundiertes Wissen besitzt.

Ästhetik

Ästhetik bedeutet ursprünglich Wahrnehmung. Hier geht es darum, die Motiv-Szene gut wahrnehmbar zu machen. Das größte Lob für eines meiner Fotos war die Feststellung, dass es sich hierbei um ein Seherlebnis handele. Für Ästhetik im Sinne guter Wahrnehmbarkeit ist es bedeutungslos, ob ein Motiv hässlich oder schön ist. Man kann von hässlichen Dingen gute ästhetische Fotos und von schönen Dingen auch schlechte und abstoßend langweilige Fotos machen.

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist die Ästhetik die Lehre vom Schönen. Man muss sich nicht wundern, wenn die meisten Fotografen schöne Motive, z.B. Sehenswürdigkeiten, aufsuchen und davon schöne Fotos machen wollen.

Aber hier geht es nicht um Begriffsbestimmungen. Sondern um eine systematische und praktisch anwendbare Übersicht der Mittel, welche die Ästhetik bzw. Wahrnehmbarkeit eines Fotos verbessern. Am ehesten zugänglich sind die in den meisten Fotobüchern beschriebenen Gestaltungstricks. Das ist aber zu wenig. Unter anderem verbergen sich eine Vielzahl von Kompositionsprinzipien in der Kunsttheorie. Das sind geisteswissenschaftlich geprägte Theorien voller Verbalakrobatik, gemischt mit Ideologie und Psychologie. Sperrig, elitär  und sehr schwer für praktische Zwecke zu erschließen. Daher war es ein Lichtblick, dass ich auf die Ästhetiktheorie des kunstinteressierten Mathematikers Birkhoff gestoßen bin. Mathematiker gehen bekanntlich nüchtern und systematisch vor. Mit dem ästhetischen Maß von Birkhoff habe ich eine Formel übernommen, mit der sich die bekannten ästhetischen Theorien erklären und einordnen lassen.

M = O / C     (M = aesthetic measure  O = aesthetic order  C = complexity)

Die beste Ästhetik wird erreicht, wenn O und C im Gleichgewicht stehen. M = 1.

Die Formel hat nicht nur einen theoretischen, sondern vor allem auch einen unmittelbaren praktischen Nutzen. Und man braucht auch keinen Taschenrechner. Sie ist intuitiv anwendbar. Die beste Ästhetik entsteht, wenn es gelingt, ein Gleichgewicht zwischen Komplexität und Ordnung im Foto herzustellen. Ich suche bei einer Aufnahme ganz bewusst nach störenden, verwirrenden und überflüssigen Elementen. Durch Wahl von Ausschnitt, Perspektive und Richtung versuche ich diese so weit wie möglich auszublenden. Ist das Motiv zu gleichförmig, symmetrisch und langweilig, bringe ich Störfaktoren oder zusätzliche Objekte in das Foto hinein. Es ist also eine sehr praktikable und intuitiv anwendbare Theorie. Man lernt durch Ausprobieren! Aber auch die anderen Kompositionstheorien und Tricks lassen sich durch die Gleichgewichtsformel einordnen und systematisieren. Sie sind praktisch immer Mittel zur Erzeugung von Ordnung oder Komplexität. Man sollte sie daher kennen und damit experimentieren. Eine hochgradige geometrische Ordnung stellt z.B. die Zentralperspektive dar. Sie bietet auch bei komplexen Szenen ein angemessenes Gleichgewicht. Hier ein Beispiel:

Aussage

Es ist mit der Aussage wie mit der Ästhetik. Ein stereotyper Begriff, den man erst einmal analysieren muss. Auf seine praktische Tauglichkeit für die Erstellung eines Fotos. Man kennt natürlich solche Floskeln wie „das Foto hat eine starke Aussage“, „das Foto sagt mir nichts“, „das Foto ist ansprechend“, „das Foto erzählt eine Geschichte“. Tatsächlich kann ein Foto aber nicht sprechen. Trotzdem „sagt ein Bild mehr als tausend Worte“.  Genau wie beim Einsatz des Faktors „Ästhetik“ kommt man um eine systematische Betrachtungsweise nicht herum. Letztendlich geht es um die Bedeutung der Objekte, die auf dem Foto abgebildet und sichtbar sind. Und dafür ist die Wissenschaft der Semiotik nützlich. Semiotik ist die Lehre von den Zeichen und ihrer Bedeutung.  Beim Foto sind das visuelle Zeichen. Hauptsächlich ikonische Zeichen, weil eine nachvollziehbare Ähnlichkeit mit den dadurch bezeichneten realen Objekten besteht. Daneben auch symbolische Zeichen, wenn Schriften oder Symbole im Motiv auftauchen. Die Sichtweise der Semiotik bringt eine Abstraktionsebene in das Foto hinein, welche es erlaubt, das Foto als eine visuelle Botschaft zu analysieren oder durch geschickte Wahl der visuellen Zeichen eine gewünschte Botschaft zu übermitteln. Allerdings ist auch die Semiotik ursprünglich eine Geisteswissenschaft und mit ihren unterschiedlichen Definitionen in Bezug auf die praktische Fotografie etwas schwer zugänglich. Da wird viel geredet und eine im Kern einfache Angelegenheit zu einer Art Geheimwissenschaft. Ich werde mich daher auf das Wesentliche beschränken. Und das ist ebenso einfach wie praktikabel.

Die Aussage ist nicht notwendigerweise das Ergebnis des fotografischen Prozesses. Man kann auch von einer gewünschten Aussage ausgehen und dazu ein passendes Motiv suchen und zusammenstellen. Das wäre dann konzeptionelle Fotografie, die von einer Idee ausgeht. Die Idee wird dann fotografisch visualisiert. Symbole und Assoziationen spielen dabei die entscheidende Rolle.

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