Gesamtanalyse eines Fotos

Hier analysiere ich einmal die Entstehung eines Fotos nach dem heuristischen Schema: Motiv – Fototechnik – Ästhetik – Aussage. Die Wahl fiel auf eine komplexe und inhaltsreiche Szene. Die meisten Fotos sind einfacher, so dass man bei der Erstellung keine umfangreichen Analysen und Überlegungen braucht. Entscheidend ist aber auch dort, dass man die wenigen und wesentlichen Aspekte erkennt und optimal verwertet.

Beispiel Frankfurter Straßenszene:

Urbanes Triptychon

Motivsuche

Zunächst fiel mir das antike, aber wie neu erhaltene Moped der Marke Zündapp auf. Und dann der in der Nähe knienden Profibettler. Eine schon recht skurrile Angelegenheit. Die Frage war dann natürlich automatisch, wie man diese beiden Teilmotive in ein einziges Foto bringt. Keine einfache Aufgabe, weil auch eine große Zahl von Fußgängern durch die Motiv-Szene gelaufen ist. Eine Szene mit sehr vielen bewegten und unbewegten Objekten. Links auf der Straße auch ständig Fahrzeuge, die den Bildaufbau gestört haben. Dazu ein Display mit rasch wechselnden Werbeplakaten.

Fototechnik

Ich habe aus einiger Entfernung ein Teleobjektiv verwendet. Und einen schnellen Serienbildmodus, um später den besten Moment aus der bewegten Szene auswählen zu können. Die Beleuchtung war gut genug für eine mittlere ISO-Zahl und eine hohe Auflösung. Ein Vorteil bei einer so detailreichen Szene. In der Bildbearbeitung erfolgte der Einsatz des Bleach-Bypass-Filters von Adobe Lightroom. Die Farben erinnern fast an ein Schwarzweißfoto und sind nicht mehr so freundlich wie im Original.

Ästhetik

Wahl der Perspektive

Eine Frontalaufnahme. Die beiden Hauptmotive Moped und Bettler befinden sich in der gleichen Entfernungsebene. Sie werden in der richtigen Größenproportion dargestellt. Die Umgebung fügt sich in eine Zentralperspektive, die nur durch das Werbedisplay versperrt wird. Allerdings wird sie im Werbeplakat mit einem Blick auf den Eiffelturm in gewisser Weise fortgesetzt. Es gibt bedingt durch die lange Brennweite auch keine stürzenden Linien. Eine ruhige und proportionale Darstellung. Im Sinne des ästhetischen Maßes von Birkhoff, erhöht die Perspektive hier die Ordnung. Bei der hohen Komplexität der Szene ein absolutes Muss.

Geometrie

Wir haben hier eine klassische Dreieckskomposition, wie wir sie aus zahlreichen religiösen Darstellungen als Triptychon kennen. Ein achsensymmetrisches Dreieck. Neben der Perspektive ein zusätzlicher Faktor, der Ordnung in das Bild bringt. Dazu eine bekannte ikonische Stereotype.

Ästhetisches Maß nach Birkhoff

Insgesamt erreicht die Ästhetik M=O/C keinen maximalen Wert. Die Komplexität C bleibt im Vergleich zur Ordnung O zu hoch. Dafür ist der Informationsgehalt umfangreich und liefert reichlich Material für ein Analysebeispiel.

Wahrnehmung

Alle Objekte sind klar und scharf erkennbar. Die Perspektive erscheint natürlich. Es gibt keine Irritationen durch störende Überschneidungen oder unpassende Objekte. Purer Realismus. Das Auge kann etwas entdecken. Das Foto ist wie ein Blick auf eine reale Szene. Die Farben waren im Original freundlich heiter. Ein Sommernachmittag. Das passte nicht zur Problematik des Bildes. Schließlich sind organisierte Bettler nichts Positives. Die Farben wurden daher mit dem Bleach-Bypass-Filter verändert. Es ergibt sich eine kalte, leicht düstere Atmosphäre.

Aussage

Denotation

Wir sehen eine Fülle visueller Zeichen. Also perspektivische Projektionen von realen Objekten auf der Bildfläche. Die direkte und primäre Bedeutung der einzelnen Zeichen ist offensichtlich. Urbane Szene mit Moped, Bettler, Werbedisplay, Fußgängern, Autos und vielem mehr.

Konnotation

Jedem der Zeichen lassen sich vielfältige Assoziationen und Zusatzbedeutungen zuordnen. Interessant ist das Moped. Steht für etwas antiquierte aber solide Technik. Spielt jedoch keine Rolle. Gehört einfach zufällig in dieses städtische Umfeld. Sieht hübsch aus und kann ein bisschen mit der Szene versöhnen. Der Bettler, das eigentliche Hauptmotiv, gibt da schon einiges mehr her. Die Konnotationen sind unangenehmer Art. Das beginnt mit der Bettelhaltung, die in einer modernen Gesellschaft ganz und gar unangebracht ist. Mittelalter. Nicht für alle Menschen, aber für Leute, die ihre Umwelt sorgfältig beobachten, handelt es sich um einen Profibettler, der als Teil einer kriminellen Organisation arbeitet. Trotzdem können wir ihm nicht jede Form von Mitleid verweigern. Darum lohnt sich dieses Geschäft, an dem hauptsächlich die Hintermänner verdienen.

Aber die Gesamtkonstellation kann noch eine andere subtilere Assoziation erzeugen, die auch Bildabsicht war. Wir sehen eine Dreiecksaufteilung, wie sie für ein Triptychon typisch ist. Typisch für religiöse mittelalterliche Szenen. Und die Assoziation des Mittelalters passt auch zu diesem Bettler.

Die Farbigkeit bringt rein emotionale Assoziationen, die eher negativer Natur sind. Sie ist düster und unterstreicht den seltsam unguten Charakter der Szene. Weitere im Umfeld sichtbaren Objekte gehören zu einer typischen urbanen Umgebung.

Paradigma

In diesem Foto finden wir eine Menge Paradigmen. Ein Paradigma ist vereinfacht gesagt eine Liste gleichartiger Objekte, die man einer Klasse oder Gruppe zuordnen kann. Aber es ist für die Bildaussage und Komposition von entscheidender Bedeutung, welches Objekt des Paradigmas verwendet wird. Wir haben hier ein Paradigma von Fahrzeugen. Schon ein durchfahrendes und erst recht ein auffälliges, z. B. rotes Auto hätte das Foto zerstört. Des Weiteren gibt es ein Paradigma der Passanten. Hier waren eine Menge an Passanten unterwegs. Hätte man statt der unauffälligen Frau einen Behinderten im Rollstuhl gewählt, wäre das Bild ebenfalls unbrauchbar gewesen. Zu große Ablenkung. Dann das Paradigma der im Werbedisplay abwechselnd angezeigten Werbeplakate. Die Schuhreklame war noch einigermaßen erträglich. Die anderen Plakate hässlich und mit unpassenden Assoziationen verbunden. Dann das Paradigma der Bettler und ihrer Posen. Der Bettler nahm im Verlauf der Zeit verschiedenen Haltungen an, die aber nicht gepasst hätten. Ein Denken in Paradigmen fördert die kreative Auswahl, wenn innerhalb einer Motiv-Szene zeitliche oder räumliche Alternativen vorhanden sind. Hier musste ich lang und geduldig warten und viele Fotos schießen, bis eine brauchbare Konstellation entstand.

Syntagma

Das Syntagma wird durch die Komposition und Zusammenstellung bestimmt. Die Grammatik des Bildes. Der Bettler befindet sich auf einer Entfernungsebene mit Werbedisplay und Moped. Und ist Teil der zentralen Dreieckskomposition und wird daher auch unmittelbar wahrgenommen. Seine Bedeutung ergibt sich durch die Einbindung in das städtische Umfeld. Mittelalter versus Neuzeit. Zu klein im Hintergrund oder groß im Vordergrund wäre dieser Bezug verloren gegangen. Der gesellschaftskritische Aspekt des Fotos resultiert genau aus dieser Einbindung und dem gewählten Syntagma. Überlegungen zum Syntagma, also der Beziehungen der Objekte innerhalb der Bildfläche, sind für eine Aussage von entscheidender Bedeutung.

About

Comments are closed.