Wahrnehmung der Bildfläche

Je nach Position von Objekten in der Bildfläche verändert sich deren Wirkung. Rudolf Arnheim hat auf gestaltpsychologischer Basis eine Art Gleichgewichtstheorie aufgestellt. Ein Gleichgewicht, das sich in einem dynamischen Feldprozess der Wahrnehmung einstellt. Hierbei spielen auch Abstoßungen und Anziehungen zwischen Objekten eine Rolle. Die optimale Ästhetik wird dann erreicht, wenn sich die Objekte innerhalb der Bildfläche in einem dynamischen Gleichgewicht der Wahrnehmung befinden.
Ich beschränke mich hier nur auf einen kleinen Ausschnitt aus Arnheims umfassendem Werk. Auf die Position von Objekten in der Bildfläche und auf in der Bildfläche wirksame Richtungsfaktoren. Nach Arnheim haben diese Wirkungen nichts mit der Leserichtung und auch nichts mit Rechts- oder Linkshändigkeit zu tun.

Unten – oben

Ein Objekt in der oberen Hälfte des Bildes wirkt größer und bedeutsamer als dasselbe Objekt in der unteren Bildhälfte. Das hat unter anderem auch eine Konsequenz für die perspektivische Ausrichtung sogenannter stürzender Linien. Richten wir die Senkrechten Kanten eines Gebäudes geometrisch senkrecht aus, erscheint das Gebäude oben in der Tendenz zu breit. Es ist also eventuell besser, die Senkrechten nicht ganz senkrecht auszurichten. Lassen wir das die Wahrnehmung der Bildfläche erledigen, um einen möglichst natürlichen Eindruck zu erhalten.

links – rechts

Ein Objekt in der rechten Bildhälfte wirkt größer und bedeutsamer als dasselbe Objekt in der linken Bildhälfte. Man kann sich das wie eine Waage vorstellen. Steht ein großes oder wichtiges Objekt rechts der Mitte, kann das Bild nach rechts kippen und wir empfinden das als unharmonisch. Soll das Objekt rechts bleiben, braucht es ein Gegengewicht auf der linken Seite oder in der Gesamtkonstruktion. Wichtige und große Objekte werden bei ausgewogenen Kompositionen daher meisten etwas nach links versetzt.

Anmerkung zum Goldenen Schnitt

Der Absolutheitsanspruch des Goldenen Schnitts wird durch Arnheims Wahrnehmungspsychologie infrage gestellt. Der Goldene Schnitt nimmt keine Rücksicht darauf, ob der kürzere oder längere Teil einer geteilten Strecke oben, unten, rechts oder links liegt, obwohl dann die Wirkung definitiv unterschiedlich ist.

Bewegungsrichtungen

Von links nach rechts verläuft die als normal empfundene Richtung. Ein sich in dieser Richtung bewegendes Objekt erfährt keinen großen Widerstand. Eine von links ins Bild tretende Person erzeugt nicht soviel Aufmerksamkeit wie eine von rechts ins Bild tretende Person. Eine Gerade (z.B. ein Berghang), die von links oben nach rechts unten verläuft, wird als Gefälle interpretiert. Ein Gerade von links unten nach rechts oben als Steigung. Ein Bergsteiger, der von rechts nach links aufsteigt, wirkt angestrengter, als einer der in der normalen Richtung von links nach rechts aufsteigt. Um den schwierigen Anstieg bei einem Radrennen zu zeigen, könnte man die Straßenseite wählen, die den Anstieg von rechts nach links zeigt.

TIPP: Verschieben Sie den Bildausschnitt nach oben, unten, rechts und links. Und schauen Sie, wie das Foto am besten im Gleichgewicht ist.

Literaturempfehlung:
Originaltitel: Rudolf Arnheim. Art and Visual Perception. Berkeley, Los Angeles, London 1974

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