Motiv

Motiv – Fototechnik – Ästhetik – Aussage

Definition Motiv

Motiv kommt aus dem Lateinischen: motus = Bewegung, Antrieb. Laut Wikipedia ist es das wichtigste und meist zentrale Objekt eines Fotos. Viel besser und praktischer ist die Definition, die in der englischen Übersetzung von Fotomotiv steckt: photo scene.

Fotoszene ist eine viel umfassendere und neutralere Beschreibung dessen, was gewöhnlich pauschal und mit Psychologie vermischt als Motiv bezeichnet wird. Ich verstehe unter Motiv eine in der dreidimensionalen Realität liegende Szene mit einem oder mehreren unterscheidbaren Objekten. Alles, was wir sehen können, kann auch Motiv sein.

Wenn man einmal in Fotoportale wie Flickr, 500px oder Fotocommunity schaut, bekommt man eine Vorstellung von der Welt der Motive und ihrer Beliebtheit. Ganz vorne stehen grandiose Landschaften. Was einst die Maler der Romantik dargestellt haben, wird nun durch die Fotografie weitergeführt. Direkt danach kommen Vogelbilder, ein seltsames und für mich eher unerwartetes Phänomen. Vom Greifvogel bis zu den unschlagbaren Buntspechten. Die dritte große Gruppe sind Architekturfotos. Großartige Gebäude, Brücken, Skylines gerne auch bei Nacht. Danach kommen erst die anderen beliebten Themen, wie Natur, Tiere, Food, Auto, Sport oder Mensch. Und immer steht die Schönheit im Vordergrund. Fotos müssen schön sein, die Ästhetik makellos, Inhalt oder Aussage ist weniger wichtig. Wer als Hobbyfotograf als Erstes in solche Fotoportale hineinschaut und dann dort auch mitmacht, gerät in eine stereotype schöne Welt, die mit der Realität nur wenig zu tun hat. Und wird dazu verleitet oder man könnte auch sagen manipuliert, das Gesehene nachzuahmen.

Aber das Schöne und Exotische ist natürlich in der normalen Lebensumgebung schwer zu finden. Daraus entsteht ein Problem des Motivmangels. Man findet keine Motive. Und hofft dann auf Urlaubsmotive und reist zu allerhand sogenannten Sehenswürdigkeiten. Oder man fotografiert die Katze und geht in den Zoo. Ich habe übrigens nichts gegen Katzen. Man kann davon auch interessante Fotos machen. Aber 95 Prozent der Katzenfotos z. B. auf Flickr sind vollkommen langweilig. Katzen sitzend, stehend, liegend ohne jede Aktion. Dabei haben Katzen viele Eigenarten und Verhaltensweisen, die man studieren und in gute Fotos umsetzen könnte.

Das Alltägliche, Gewöhnliche oder gar Hässliche, also die reale Welt, wird von vielen Hobbyfotografen erst gar nicht in Betracht gezogen. Man ist in seltsamen und einseitigen Vorstellungen gefangen. Verstärkt und geradezu zementiert wird das dann durch den sozialen Charakter der Fotoportale. Faves, Likes und lobende Kommentare spielen dabei eine wesentliche Rolle. In der Psychologie nennt man das positive Verstärkung. Tatsächlich loben die meisten Nutzer Fotos nur, um selbst Lob zu erhalten. Man befindet sich in einer Internetblase, die den Blick auf Alternativen und kreative Möglichkeiten verstellt. Nicht zuletzt bekommt man auch ein falsches Selbstbild von den eigenen Fähigkeiten. Aber man kann aus den verschiedenen Fotoportalen einen großen Nutzen ziehen, wenn man sich von den üblichen stereotypen und einseitigen fotografischen Klischees befreit.

Für die folgenden Ausführungen spielt die Art der Motive keine Rolle. Man kann alles gut oder schlecht fotografieren. Und es wird hier keine Ideologie betrieben, was man fotografieren soll und was nicht.

Motive finden

Eigentlich ganz einfach. Man fotografiert, was man für schön, interessant, aktuell oder sonst bemerkenswert hält. Also was man sieht, um es für sich oder andere festzuhalten. Um sich selbst zu erinnern, um es ins Internet zu stellen oder Freunden zu schicken. Groß ist dann die Enttäuschung, wenn das fertige Foto in ungünstiger Weise vom Gesehenen abweicht. Allerdings hat die moderne Technik des Live-View hier viel verbessert. Den ungefähren Eindruck des geplanten Fotos haben wir damit schon vor der Aufnahme im Sucher. Das endgültige Foto können wir sofort nach dem Auslösen in allen Details betrachten und prüfen, ob es unserer ursprünglichen Vorstellung oder Wahrnehmung entspricht.

Schon der Begriff Sucher (Viewfinder) suggeriert, dass man zum Finden eines Motivs durch den Sucher schauen müsste. Und wir erleben eine Menge Fotografen, die sozusagen mit der Kamera am Auge die Gegend absuchen. Manche haben auch einen kleinen Papprahmen dabei, durch den sie hindurch schauen. Der Papprahmen ist einer dieser sinnlosen Profitipps, wie man fotografieren lernt. So etwas nennt man tatsächlich Motivsucher. Auch eine Motivsucher-App für Smartphones gibt es bereits. In Wirklichkeit hilft der Motivsucher beim Finden eines Motivs rein gar nichts. Man kann damit höchstens bei einem gefundenen Motiv den günstigsten Motivausschnitt bestimmen. Das gehört aber bereits in den Bereich der Gestaltung und kommt später.

TIPP: Suchen Sie nicht nach dem Schönen, sondern nach dem Interessanten!

Die Mehrzahl der Fotografen ist unablässig auf der Suche nach dem offensichtlich Schönen. Man reist in der Welt herum, um großartige Landschaften und Sehenswürdigkeiten einzufangen. Selbstverständlich ist das Schöne durchaus interessant. Das Schöne hebt sich vom Üblichen und Gewöhnlichen ab und erregt Aufmerksamkeit. Man wird es in der Regel nicht übersehen können und selbstverständlich auch fotografieren. Die meisten interessanten Motive sind aber nicht direkt schön. Oftmals sogar hässlich. Oder unauffällig. Man übersieht sie schon mal. Das können Dinge sein, die vom Üblichen abweichen, die man eigentlich an einer bestimmten Stelle nicht erwarten würde. Die man so noch nie gesehen hat.

Zum Beispiel diese Tankstelle. Gerade als ich unterwegs für dieses Kapitel darüber nachdachte, was eigentlich interessant ist, sah ich die ungewöhnliche automatische Minitankstelle für LKW. Ein Motiv war gefunden. Die Tankstelle sah auf den ersten Blick wenig imposant aus. Kein einfaches Motiv. Im Vordergrund standen unschöne Verteilerkästen. Und für die Trennung der Tankstelle vom Hintergrund einer Gebäudewand kam nur noch eine schräge Aufnahmerichtung infrage. Problematisch. Aber etwas Glück gehört auch zum Fotografieren. Die Person mit der blauen Jacke kam gerade rechtzeitig und bildete einen ausgleichenden Kontrapunkt zu der sonst viel zu übergewichtig in der rechten Bildhälfte stehenden Tankstelle.


Beispiel eines ungewöhnlichen Objektes:

Interessant könnte sein: besonders Unsinniges, Überflüssiges, von ungewöhnlicher Farbe, Surreales, Disfunktionales, Zerstörtes, Weggeworfenes, Zerfall. Oder Nützliches, Kreatives, Funktionales, außergewöhnliche Technik oder Architektur. Altmodisches, Modernes. Improvisiertes. Schädliches. Kritisierbares. Politisches, extremer Luxus, Armut, Reichtum. Menschliches. Komisches. Lustiges. Irritierendes, Unverständliches, Unbekanntes. Es lohnt sich darüber nachzudenken. Speziell und subjektiv, was für Sie ganz persönlich in Ihrer Umwelt und Erfahrungswelt interessant ist.

Tipp: versuchen Sie einmal eine Art Brainstorming zu Motiven

Die Motivsuche wird so zu einer intensiven Art der Weltsicht, mit einem Nutzen, der weit über die Fotografie hinausreicht. Ob nun schön oder weniger schön, in jedem Fall empfiehlt sich eine Kurzanalyse der im Fotobereich befindlichen Objekte. Eine Analyse der Foto-Szene. Was haben die Objekte für eine Bedeutung oder Aussage. Wie passen sie zusammen. Ist die Kombination in einem Bild witzig, widersprüchlich, realistisch oder surreal? Was ergibt sich dann als mögliche Aussage des Fotos. Welche Informationen übermittelt das Foto? Was muss ins Bild, was kann man weglassen. Und stimmt das mit den möglichen eigenen Absichten und Ansichten überein?

Vergessen Sie dabei erst einmal das Schöne, suchen Sie nicht primär nach ästhetischen Mustern, Farben und Formen! Genau diese Suche nach abstrakter Ästhetik wird von vielen Fotobüchern empfohlen und in den Mittelpunkt gestellt. Das behindert aber eine unbefangene und neugierige Sicht auf die Realität. Suchen Sie, was für sie persönlich interessant ist. Und versuchen Sie danach, wenn Sie etwas gefunden haben, dieses möglichst eindrucksvoll mit Fotografie und Bildgestaltung zu erfassen. Also zuerst das Motiv und danach die Bildgestaltung. Als Werkzeug, um einen intensiven Eindruck vom Motiv herzustellen. Ein intensiver Eindruck ist Ästhetik in Reinform. Der Sinn von Ästhetik. Und sie finden dabei auch noch verborgene Schönheiten, an denen viele achtlos vorübergehen.

Etwas relativieren muss ich das allerdings. Auch ästhetische Formen und Muster können für sich genommen interessant sein. Das Gebiet der abstrakten Fotografie. Die sogenannte Stracts. Und natürlich sind Bücher und Web-Informationen über Bildgestaltung durchaus nützlich, wenn man die dort vermittelten Kenntnisse, Theorien und Tipps an der richtigen Stelle des fotografischen Prozesses einordnet.

TIPP: Beobachten Sie aufmerksam die Umgebung Ihres Motivs

Ein Motiv steht immer in einer Fotoszene. Auch bewegte Objekte wie Menschen, Vögel, Autos, Flugzeuge können jederzeit in den geplanten Szeneausschnitt hinein kommen. Man sollte sich also nicht nur auf das interessante und vielleicht schöne Motiv konzentrieren, sondern immer auch die Umgebung im Blick behalten. An dem folgenden Beispiel kann ich das leicht zeigen. Eigentlich wollte ich nur die leeren Sektflaschen fotografieren. Plötzlich sah ich von links einen Oldtimer heranbrausen. Gerade noch Zeit, im richtigen Moment abzudrücken.


Ein unerwarteter Oldtimer

TIPP: Kombinieren Sie das Hauptmotiv mit weiteren Motiven

Ein Motiv kommt selten allein. Immer steht das Motiv in einer Szene mit Vordergrund, Hintergrund und seitlichen Objekten. Wenn man seine Umgebung mit den Augen systematisch abtastet, findet man zusätzliche Objekte, die mit dem Hauptmotiv harmonieren, kontrastieren oder Widersprüche bilden. Dann kann man versuchen, eine Blickrichtung, Standhöhe und Entfernung zu finden, bei der diese Objekte zusammenrücken und in ein einziges Bild passen. Beim folgenden Beispiel kombinierte ich die weit entfernt stehende Frankfurter Paulskirche mit der frei stehenden Wand eines Abrissgebäudes. Teleobjektiv und passende Komposition war notwendig.


Ungewöhnlicher Anblick und Durchblick

Hauptmotiv und Anlass für das folgende Foto war die beschädigte Ampel. Weil allein zu langweilig, habe ich dazu passende andere Objekte gesucht. Und die Objekte mit Teleobjektiv zusammengebracht. So gibt es zwar keinen Schönheitspreis, aber etwas zu sehen.

Und oft lohnt es sich, zu warten, bis ein dynamisches Objekt wie Mensch, Auto, Tier oder sonstiges die Szene belebt. Bei dem folgenden Foto fand ich zunächst nur das verbogene Geländer interessant. Aber es war sofort klar, dass ich damit ein schnell fahrendes Auto kombinieren musste.


Ein Raser als zusätzliches dynamisches Element

Das Plakat auf dem Fußboden war schon seltsam genug. Aber mit Fußgängern, die achtlos darüber laufen, wurde das noch viel skurriler.

Über die Werbung stolpern …

Weiteres Kombinationsbeispiel.

 

TIPP: Informieren Sie sich über Ihre Motive

Je mehr Sie über ihre Motive wissen, desto besser. Besonders wichtig im Bereich der dokumentarischen Fotografie. Nur dann können Sie die typischen Merkmale und die Funktionalität Ihres Motivs erkennen und ästhetisch optimal umsetzen. Notfalls informieren Sie sich über das Internet nachträglich. Dann können Sie einschätzen, ob das Foto so etwas wie Aussagekraft hat oder am Wesentlichen vorbeigeht.

TIPP: Lassen Sie alles Unwichtige weg und suchen Sie einen konzentrierten Ausschnitt

Bei diesem Foto an einem Fitness-Studio habe ich mich auf das Wesentliche konzentriert und sogar ausnahmsweise einen Kopf abgeschnitten. Der Kopf hat keine Muskeln und ist daher in diesem Zusammenhang unwichtig.


Stark aber kopflos

TIPP: Vermeiden Sie angeschnittene oder direkt am Bildrand klebende Objekte

Angeschnittene, abgeschnittene oder direkt am oberen bzw. unteren Bildrand klebende Objekte werden meist als Bildfehler empfunden. Beispiel abgeschnittene Füße. Wenn schon abschneiden, dann richtig. Also besser gleich nur den Oberkörper oder Kopf eines Menschen zeigen. Es sollte nach gestalterischer Absicht aussehen!

TIPP: Überlegen Sie sich, ob das Motiv wirklich interessant ist

Weniger ist oft mehr. Knipsen Sie nicht einfach drauf los. Nach dem Motto – irgendwas wird schon dabei sein. Fragen Sie sich ruhig, ob sich die Aufnahme überhaupt lohnt. Ob es keine besseren Alternativen gibt. Im letzten Kapitel zu Analyse des Bildinhaltes finden Sie dazu passenden Anregungen. Man kann ein Motiv, welches auf den ersten Blick attraktiv erscheint, auch einmal verwerfen. Und spart dadurch Zeit.

Motive arrangieren

Professionelle Fotografen schlagen sich ungern mit den Zufälligkeiten von Motiven herum, sondern versuchen diese zu beeinflussen oder zu arrangieren. Bei Personen führen sie Regie. Sachen oder Objekte werden wie eine Dekoration behandelt und aufgebaut. Werbefotografen erhalten in der Regel genaue Vorgaben von der Werbeagentur. Nimmt man das Grundschema Motiv – Fototechnik – Bildgestaltung – Aussage, beginnen diese Fotografen mit der Aussage als Vorgabe und stellen sich dann eine passende Motiv-Szene zusammen. Meistens im Fotostudio, manchmal auch in einer Outdoor Location.

Das heißt aber nicht, dass wir als Hobbyfotografen an der Fotoszene nichts ändern könnten. Es ist nützlich, die Sache ebenfalls vom Ende her zu betrachten und einmal zu schauen, was aus dem Motiv für eine Aussage herauskommen kann. Damit beschäftigt sich das letzte Kapitel der fotografischen Aussage.

Zunächst einmal haben wir, wenn wir etwas findig sind, durchaus die Wahl zwischen verschiedenen Motiven mit ähnlicher Aussage. Wir müssen nicht unbedingt fotografieren. Ist die Entscheidung für ein Motiv gefallen, können wir durch Variation von Richtung und Entfernung Objekte unserer Motiv-Szene weglassen oder hinzufügen. Dann haben wir noch eine Reihe von Gestaltungsmitteln, die einzelne Objekte hervorheben oder sogar verschwinden lassen. Und wir können durch den Bildaufbau Beziehungen zwischen den Objekten herstellen. Bei sich verändernden Szenen warten wir, bis Unerwünschtes verschwindet oder Interessantes in die Szene hineinkommt. Sind uns bekannte Personen Teil des Motivs, führen wir eventuell Regie. Bei Stillleben bietet es sich an, unpassende Objekte aus der Fotoszene zu schieben und andere Objekte hineinzubringen. Und gefällt uns das Licht oder die Witterung nicht, merken wir uns das Motiv und kommen zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder.

Zusammenfassung zum Thema Motiv:

Diese Ideen zur Motivsuche sind naturgemäß nicht vollständig und sollten vor allem dazu anregen, sich über Motive mehr Gedanken zu machen, als nur darüber, ob man ein schönes Bild erhält. In den folgenden Kapiteln wird einiges davon konkretisiert. Und es kommen noch weitere Anregungen bei der Bildgestaltung und bei der Analyse der Bildaussage. Das ergibt sich aus dem engen Zusammenhang zwischen Motiv, Fototechnik, Bildgestaltung und Analyse der Bildaussage. Man kann auch mal sozusagen vom Ende her fragen, was man eigentlich aussagen will, und danach ein passendes Motiv suchen.

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